Die Schützen zoomen

Unsere optimistische Einschätzung vorweg: Unser Leben wurde seit Corona entschleunigt und auf das, was wirklich zählt, ausgerichtet. Wir hatten vermehrt Gelegenheit, uns mit unseren Bedürfnissen und auch unserer sozialen Verantwortung auseinanderzusetzen. Trotz der Verwunderungen Anfang März über leerstehende Regale in den sonst stets gut gefüllten, teils gar überdrüssigen Einkaufshallen waren wir guten Glaubens, dass unser Zugausflug im Juni zu einem sommerlichen Festival in Haltern am See stattfinden würde. Wir legten uns weiterhin ins Zeug, nicht nur mit ausreichender Dosenverpflegung ausgestattet zu sein, sondern auch die passenden Sonnenbrillen und Hüte zu organisieren. Nicht alles kann durch Digitalisierung gelöst werden Schon zwei Wochen später wurde uns bewusst, dass die eigentliche Herausforderung nicht in der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, sondern in der Beibehaltung der eingeübten Hygiene liegen würde, da Klopapier zur Mangelware wurde. Wir fingen an darüber zu grübeln, wie denn nun die drei Muscheln aus dem Zukunftsepos von „Demolition Man“ anzuwenden wären. 

Die sichtbar gewordene Vernetzung und Schnelligkeit unserer Zeit wurde durch die Gefahr der exponentiellen Verbreitung des Coronavirus offenbart. Viele kannten einen solchen Kurvenverlauf nur aus den langen Nächten des Mathematikstudiums oder vom zunehmenden Konsum der Schnäpse beim Andocken an der Theke beim Schützenfest. Doch das Gute an der digitalen Entwicklung sind die entstandenen Möglichkeiten, noch regelmäßiger Kontakt miteinander zu halten. Neben den ganz offensichtlichen Maßnahmen, solidarisch zu handeln, möglichst zuhause zu bleiben und nicht zu horten, entstanden neue digitale Chancen, auch ohne körperliche Nähe zusammenzurücken. Wir chatteten, zoomten, machten Mut; das tat jedem von uns gut. So wurde Anfang April die erste volldigitalisierte Versammlung einberufen, und ein jeder frönte, spezialisierter Remoter seines eigenen Broadcast zu sein. Ob nun Habseligkeiten im Hinter grund offenbart wurden, die nicht ganz eindeutig Kitsch oder Kunst zuzuordnen waren oder in bester „Big Brother“ Manier die Kamera bis morgens um 8:00 Uhr das Nachtleben im Hause zeigte, weil vergessen wurde, die Session zu schließen, tat dem Stolz keinen Abbruch, im 21. Jahrhundert angekommen zu sein.

Gewappnet mit diesen rühmenden Erfahrungen konnte auch die zweite volldigitale Versammlung Anfang Mai stattfinden. Kein schlechtes Staunen gab es beim Einschalten der Kameras über die stylischen Entwicklungen einiger schniecken Inbetween-Trends, die nur durch eigenes Handanlegen am Haupthaar möglich waren. Bestens mit der Technik vertraut, konnten die zurückliegenden Corona-Challenges geteilt und mit brüderlichen Respekt gezollt werden. 

Dass aber nicht alles mit Digitalisierung gelöst werden kann, was der Mensch an Gesellschaft braucht, zeigte sich am bevorstehenden Vatertagausflug. Alljährlich führt dieser Tag zu einer ausgiebigen Fahrradtour über nicht allzu sehr kontrollierte Wege. Unsicher, welche Gruppengröße und welche Ausgelassenheit passend wäre, wurde mit ausreichendem Abstand ein großer Stuhlkreis gebildet, um dem so physisch als auch metaphorisch geschaffenem Raum die Zeit für kritisches Schwadronieren über das gesellschaftliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Leben in den Jahren vor der Pandemie zu geben. 

Covid-19 brachte in diesen Tagen nicht nur eine neue Kultur des Miteinanders, sondern auch eine neue soziale Problemlö sungskreativität in unseren Reihen hervor. Diese Kreativität wurde notwendig: Die Planungen für unseren Zugausflug zum Musikfestival wurden inzwischen verworfen, und es schlich sich das Verständnis ein, dass diese hochgeschätzte gemeinsame Zeit nicht stattfinden würde. Doch wo Hoffnung schwindet, gilt es den Willen zu halten. Die Annahme, dass nach dem Ende der Pandemie alles anders werde, beruht auf den Erfahrungen, die wir hier und heute gemeinsam erleben und die uns zusammenschweißen.

 Nein, wir lassen uns nicht unterkriegen, wir wollen uns in den Armen liegen und schreiben neue Geschichten für immerdar. Unsicher, wie viele Personen sich zusammenhorten dürften, um den Auflagen gerecht zu werden, entsprang eine gewagte Idee: Zwei Gruppen an Größe und Ruhm gleich, zwei Flügel der gleichen Zeit: 

Rock gegen Techno, Techno gegen Rock.

Zoomsession
Meetup im Garten

Die Aufgabe: Jede Gruppe produziert ein Musikvideo und möge das bessere gewinnen. Das Ziel: Zusammen lebendig bleiben und Erinnerungen schaffen. In kleinen Gruppen, mal zur dritt an einem Gartentisch, mal in Videokonferenzen oder spannenden WhatsApp-Chats, wurden Ideen ausgetauscht und technische Lösungen besprochen. Abgeschlossen wurde die Aktion am Tag des ausgefallenen Festivals durch ein Abendessen in den beiden Gruppen, bevor es um Mitternacht zu der fulminanten Vorführung der Videos per Stream kam. Gewonnen haben beide Gruppen: Sowohl die eine oder andere neue Facette des lang vertrauten Kameraden als auch eine Erinnerung in einer außergewöhnlichen Zeit. Memories Remain!

Es steht für uns alle viel auf dem Spiel. Einige haben Angst um ihre Gesundheit, vielleicht sogar um ihr Leben. Andere haben ihren Arbeitsplatz verloren und haben Sorgen über ihre wirtschaftliche Existenz. Wiederum andere sorgten sich um die Feier zum runden Geburtstag, ein gesellschaftliches Highlight oder um den nächsten Urlaub. Nein, die Krise ist noch längst nicht überstanden. Es bestehen viele Unsicherheiten: medizinisch, wirtschaftlich – und erst recht aus gesellschaftlicher Sicht. Die Hoffnung besteht darin, dass zukünftig jeder stärker durch das Gefühl geprägt sein wird, persönliche Verantwortung für seine eigenen Lebensziele, seinen Nächsten und für das Ganze zu tragen. Diese Krankheit um uns herum gibt uns die Möglichkeit, unseren Zusammenhalt zu stärken und uns weiter zu verbrüdern.